ARCHIVTEXT – eine kostenlose Serviceleistung des Vereins INFOBALT, Bremen

entnommen der Ausgabe 1/99 des INFOBALT.DE – INFOBLATT BALTISCHE STAATEN
herausgegeben von INFOBALT, Helgolander Str. 8, 28217 Bremen

Handbuch Baltikum heute

Viel Mühe hat sich das Berliner Herausgeber-Duo Heike Graf und Manfred Kerner gegeben: Eine Zustandsbeschreibung der baltischen Staaten der 90er Jahre sollte es wohl werden, was uns da auf über 500 Seiten, für knapp 150 DM, prall gefüllt mit Texten und Tabellen, präsentiert wird. Lohnt sich die Anschaffung?

Ein Buch herauszugeben ist schwierig - das muß der geneigte Leser diesem ambitionierten Werk zugestehen. Natürlich wissen wir, daß trotz der geringen Größe und Bevölkerungszahl die baltischen Staaten ein leicht zu unterschätzendes Sachgebiet sind. Nur allzu bekannt ist die notwendige Sammelleidenschaft für unterschiedlichste Literatur und Quellen, um wirklich umfassende Aussagen zur Geschichte und Gegenwart der baltischen Staaten treffen zu können. Vielleicht vermissen in diesem Fall die Herausgeber auch die schöne Möglichkeit, eine ambitionierte Zeitschrift zur Thematik regelmäßig herausgeben zu können - beide waren am 1996 eingestellten monatlichen NORDEUROPA FORUM des Nomos-Verlags maßgeblich beteiligt.

Der Leser hat es nicht einfach: Langweiliges und unnötig Aufgewärmtes ist dicht neben Glücksfunden und interessanten Thesen verborgen. Wer Pech hat, fängt beim unübersichtlichen Beitrag von Claudia-Yvette Matthes zu "Politisches und Rechtssystem Lettlands" zu lesen an und könnte Gefahr laufen, in Ausbrüche schlechter Laune zu geraten: Was hier in kurzatmiger, fantasieloser Erstsemester-Sprache aufgereiht dargestellt wird, kann wohl kaum als schlechter Scherz verstanden werden. Schon bei der schlichten Aufzählung von Lettlands größten Städten wird Ventspils schlicht vergessen, und für die übrige einführende Kurzdarstellung eine Datensammlung von 1990 aus der Mottenkiste geholt. Bei den Übersetzungen (z.B. der Parteibezeichnungen) wird geschludert (die Lettisch-Kenntnisse der Autorin dürften damit wohl in Zweifel gezogen werden dürfen), für Laien unverständliche Fachbegriffe spontan erfunden und nicht erläutert (was ist eigentlich eine "Meso-Ebene"?), und so manche Stilblüte scheint an den LektorInnen vorbeigeschmuggelt worden zu sein: "In Riga existieren wegen der Größe der Stadt bislang zwei Ebenen der Kommunalverwaltung, sechs Bezirksräte sowie ein (Gesamt-)Rigaer Stadtrat. Zusätzlich gibt es den sogenannten Dom, der sich aus je 30 Mitgliedern der beiden Strukturen zusammensetzt." Der Kölner Dom in Riga? (Dome = lettisch: Rat). Auch die Ergebnisse der ersten demokratischen Wahlen in Lettland scheinen Frau Matthes ein Mirakel zu sein: Da werden einfach Wahllisten wie "Mçs savam novadam" (Wir für unsere Region) als "Verwirrung der Wähler" bezeichnet, weil angeblich die Namen der einzelnen Parteien nicht mehr zu erkennen gewesen seien. Bitte nachlesen im wohltuend besseren Beitrag zum estnischen Parteiensystem (Undine Bollow) im gleichen Buch, Frau Matthes: Nicht die Parteizugehörigkeit war meistens der Hauptgrund für die Wahlentscheidung, sondern es wurden schlicht öffentlich bekannte Persönlichkeiten gewählt. Wer bekannt genug war - wie z.B. der ehemalige Ministerpräsident und KP-Führer Godmanis, dem reicht eine Partei-Neugründung kurz vor der Wahl. Schon in lettischen Presseinterviews wird häufig zwar der Name des Interviewten, nicht aber seine Parteizugehörigkeit genannt. Das war selbst 1998 noch so - hier beeilt sich Frau Matthes aber dann unnötigerweise, mit der lettischen "Reformpartei" eine Wahlfavoritin auszurufen, die dann tatsächlich weniger als 1% der Stimmen bekam. Matthes fügt allzu offensichtlich Untersuchungsergebnissen von 1995 schlicht neue Thesen hinzu, ohne die alten zu überprüfen oder gar zu korrigieren. Leider werden die LeserInnen (trotz vieler wissenschaftlich aussehender Fußnoten) nicht darauf hingewiesen. Wie soll man sonst verstehen, daß eine Zusammenarbeit der beiden Parteien "Lîdztiesîba" und "Tautas saskaòa" angeblich einem "politischen Selbstmord" gleichkäme, kurz nach Erscheinen des Buches gerade diese Parteien aber bei den Parlamentswahlen auf einer gemeinsamen Liste mit 14% einen Überraschungserfolg landen? Gleiches passiert Matthes mit den Sozialdemokraten, denen sie "nach wie vor eine untergeordnete Rolle" zubilligt, oder der Grünen Partei, denen sie Koalitionen mit anderen Parteien nachsagt, die inzwischen schon gar nicht mehr existieren.

Doch Frau Matthes hat wohl ihre Studienarbeit, die aus sehr unterschiedlichen Quellen zusammengestückelt scheint, bereits etwa 1995 abgeschlossen und nichts dazugelernt. Schade. Vor Trugschlüssen und Fehlurteilen nach Lektüre dieses Artikels sei ausdrücklich gewarnt! Da muß wohl noch mal jemand anderes an das Thema ran.

Schnell gewechselt zum Thema Wirtschaft. Da sollten doch wohl die puren Fakten versammelt sein! Immerhin stammen die Autoren hier vom renommierten Institut für Weltwirtschaft in Kiel, könnten also regionale Sachkenntnis beweisen. Doch weit gefehlt! Nicht am Sachverstand mangelt es, sondern an der Aktualität der Daten. Weiter als 1995 reichen sie nicht, wiederholen also die schlechte Datenlage der Europäischen Union, die mit dieser Datengrundlage später die Beitrittsfähigkeit der baltischen Staaten beurteilen wollte. Schlimmer noch sieht es mit dem Gebrauchswert der Darstellungen aus: Da werden Steuersysteme erklärt, die 1995 mal galten, und Strukturen bei Bahn und Telekommunikation aus dem Jahre 1994 dargelegt. Sozialhistorisch mag das interessant sein, - jahrelang hat sich niemand darum gekümmert. Wir können beruhigt sein: Die Konjunktur, mit bloßen Zahlenreihen sich als "Gutachter" profilieren zu müssen, sind auch für das Kieler Institut vorbei. Immerhin sind einige Einblicke grundsätzlicher Art auch hier möglich. Wer als interessierte/r Unternehmer/in aktuelle Zahlen sucht, sollte sich dennoch lieber den OECD-Investitionsführer besorgen (siehe INFOBLATT Nr. 2/98).

Kommen wir lieber zu den positiven "Highlights" des Buches: Sehr lesenswert ist vor allem die ausführliche Darstellung der Außen- und Sicherheitspolitik aller drei baltischen Staaten. Zusammen mit der ebenfalls positiv hervorzuhebenden Darstellung von baltischer "Ethnopolitik" (schon durch den Titel sich abhebend gegenüber allem Gerede von ‘Minderheitenschutz’) werden hier genau diejenigen Themen berührt, die zur Zeit auch ständig in der Diskussion stehen: Die Frage des Beitritts der drei baltischen Staaten zur Europäischen Union und zur NATO. Wer hier geduldig nachliest, wird endlich mal gute Argumente finden, warum es bisweilen besser ist, eine fundierte wissenschaftliche Abhandlung zu lesen, als den vermeintlich naheliegenden Schlußfolgerungen von Medienschlagzeilen zu folgen. Vier Autoren der FU Berlin, des Europäischen Parlaments, des Integrationsbüros Lettlands in Riga und des Instituts für Friedenswissenschaften in Kiel haben hier ihr ganzes Fachwissen in einen zusammenfassenden Beitrag eingebracht, der wichtige Grundlagen zum Verständnis der andauernden politischen Diskussion im Baltikum liefert. Nimmt man den einleitenden Beitrag der Herausgeber Graf und Kerner hinzu, der noch so manche "Fußnote" hinzufügt, eröffnen sich so manche neue Aspekte zur weiteren Diskussion (z.B. die im Buch zitierte These einer Veranstaltung der Bundeswehr-Universität in München von 1993/94, sich im Baltikum lieber auf Hilfssendungen zu beschränken, da sonst eine neue "Schleuse zur Schwerkriminalität" zum übrigen Europa geschaffen würde).

Ebenso positiv zu vermerken sind die drei Kapitel zur Entwicklung des Umweltschutz- und Ökologiegedankens in den baltischen Staaten seit Mitte der 80er Jahre. Allerdings: Es sei ausdrücklich empfohlen, alle drei Kapitel zu lesen, denn sie sind aus den sehr unterschiedlichen Perspektiven einer Pädagogin und Publizistin, eines Umweltschutztechnikers und eines Wissenschaftlers geschrieben. So lernt man denn manchmal mehr über die Umweltbewegung in Lettland, wenn man im Kapitel über Litauen nachliest, und über auch in Litauen zu findende Problematiken, die aber nur im Kapitel über Estland vorkommen. Besonders die Beiträge zu Litauen und zu Estland sind mit erstaunlich vielen Daten und Fakten gespickt, und reichen bis an die aktuellen Umweltprobleme heran. Für den lettischen Beitrag gilt dies zumindest noch für den Zeitraum bis Mitte der 90er Jahre. Aus der Warte eines ausschließlich auf die Ebene der lettischen Universität Konzentrierten schreibend - deren Rolle dementsprechend oft auch hervorgehoben wird -, wagt sich der lettische Autor aber nicht an einer Analyse des Zusammenhangs von Umweltbewegung und Politik heran. Zwar sind in Lettland die Umweltbewegten wegen ihrer spektakulären Aktionen vielleicht sogar am bekanntesten (zuletzt erregte z.B. eine ölbeschmierte litauische Flagge im Zusammenhang mit einem Hungerstreik gegen das nahe der lettischen Grenze geplante litauische Ölterminal Butinge im Sommer 98 in Riga Aufsehen). An einer zusammenhängenden Darstellung von Erfolgen und Mißerfolgen dieser noch heute äußerst heterogenen Gruppierungen arbeiteten sich in der Vergangenheit allerdings schon mehrere Autoren wenig erfolgreich ab.

Genug Neues und Wissenswertes also, um sich "Handbuch" (das ja auf ein "Nachschlagewerk" hinweisen könnte) nennen zu dürfen? Wohl kaum. Pech der Herausgeber eben, daß für die guten und lesenswerten Beiträge offensichtlich kein Förderer gefunden wurde, um dann ein Werk lieber um etwa 200 Seiten reduziert für 79 DM herauszugeben. So aber hängt man auch noch Kapitel über Massenmedien, Literatur, Bildung und Wissenschaft an, die über schnellatmige Zusammenfassungen allgemeiner Zustände und Andeutungen geschichtlicher Zusammenhänge nicht hinausgehen, andererseits aber - wie im Fall der Darstellung der Literatur Lettlands - offensichtlich über die internen Eifersüchteleien von gleich mehreren Autoren ein und desselben Beitrags nicht hinauskommen. Ein jeder will sich beweisen, möglichst viel zu wissen, und so wird Bekanntes und weniger Bekanntes als aufgeblähter Lesestoff recycelt unters geneigte Lesevolk verteilt. Darunter muß natürlich der Informationsgehalt leiden, und unter den zuletzt Erwähnten hebt sich in dieser Hinsicht nur der Beitrag zur Literatur Estlands durch Kürze, sachlicher Distanz und einheitlichen, lesbaren Schreibstil positiv hervor.

Auch die Anhänge am Schluß des Buches weisen leider keine konstante Qualität auf. Kann sich ein Buch, das sich einen wissenschaftlichen Anstrich gibt, leisten, in der Zeittafel Druckfehler unkorrigiert zu lassen, wo Jahreszahlen durcheinander geworfen werden wie Äpfel und Birnen? Der hohe Anspruch wird auch keinesfalls dadurch gerettet, daß die "Auswahlbibliographie" eben gerade nicht auswählt und eine Unmenge von Veröffentlichungen ausweist, deren Qualität unabschätzbar ist, um andererseits zum Beispiel nur einzelne Artikel aus Zeitschriften zu zitieren, in denen auch regelmäßig mehr Interessantes zu finden wäre. Sehr brauchbar dagegen das umfangreiche Sachwortregister, das endlich doch noch einen Hinweis darauf gibt, warum dieses Buch ein Handbuch sein soll: Man schlägt die letzten Seiten auf, sucht sich das betreffende Schlagwort, liest nach, und spart sich den Rest.

Vielleicht sollte fairerweise zum Schluß noch das Vorwort der Herausgeber unter dem Titel "die baltischen Staaten als Problem der sozialwissenschaftlichen Forschung in den 90er Jahren" Erwähnung finden (vielleicht hätte das ganze Buch lieber diesen Titel gehabt?). Hier wird manches Problem richtig analysiert und benannt, wozu auch die Schwierigkeit gehört, überhaupt zuverlässige Quellen zu finden. Mit Recht wird hier kritisiert, daß der Wahrheitsgehalt vieler Angaben, die oft nur flüchtig aus dem Internet übernommen werden, erst gar nicht überprüft wird. Wer sollte auch von der großen Masse von in der deutschen Medienwelt tätigen Journalisten anderes erwarten können! Etwas Besseres - bis auf die bereits erwähnten positiven und interessanten Ausnahmen - wird den LeserInnen jedoch mit dem "Handbuch Baltikum heute" auch nicht geboten. Wer will die Mißverständnisse, die durch die Lektüre einiger der enthaltenen Beiträge möglicherweise anderswo übernommen werden, korrigieren wollen? Da tröstet es auch nicht, daß viele andere "Baltikum"-Beiträge noch viel einseitiger daherkommen (z.B. als "Ostpreußen-" oder "Baltendeutschen"-Nostalgie). Die baltischen Staaten - ein "unmögliches" Wissensgebiet? Auch dieses Buch wird zu denjenigen gehören, die - wohl oder übel - in vielen Bücherschränken und Bibliotheken stehen werden, das man sogar möglichst ganz und sorgfältig lesen muß, um die interessanten Stellen nicht zu verpassen, das aber auch zu vielen weiteren Mißdeutungen führen und verführen kann.

Albert Caspari

(aus: INFOBALT Heft 1/99)

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