ARCHIVTEXT – eine kostenlose Serviceleistung des Vereins INFOBALT, Bremen

entnommen der Ausgabe 1/98 des INFOBALT.DE – INFOBLATT BALTISCHE STAATEN
herausgegeben von INFOBALT, Helgolander Str. 8, 28217 Bremen

Bücherforum

Poetische estnische Tagträume

Vielleicht läßt es sich vorstellen, man sei aus schweren, schlechten Träumen erwacht und habe nächtelang durchgewacht, um die unruhigen Zeiten zu überstehen: So etwa liest sich der Roman "Die Schönheit der Geschichte" der bekannten estnischen Schriftstellerin Viivi Luik. Nach "Der siebte Friedensfrühling" ein weiteres ihrer zahlreichen Werke, das auf Deutsch vorliegt.

In "Der siebte Friedensfrühling" war es noch ein achjähriges Mädchen, das auf dem kleinen, abgelegenen Bauernhof vorwiegend mit Mutter und Oma die ersten Nachkriegstage erlebt. Ein letztes Stück estnischer Freiheit der Zwischenkriegszeit auch, denn spätestens mit der Zwangskollektivierung war es mit der Aussicht auf ein beschauliches Landleben vorbei. Doch Viivi Luik ist in erster Linie Lyrikerin, und das wird auch in ihren Romanen deutlich spürbar. Wo ihre Landsleute Schwierigkeiten haben, zu erzählen und Zusammenhänge und zurückliegende Lebenssituationen zu erinnern, da beginnt erst die Kraft einer vielschichtigen Realität, die in den Verlauf eines Romans in unterschiedlicher Art und Weise eingearbeitet werden kann. Viivi Luik gräbt nicht tief in der Geschichte, so wie es ihr großer Kollege Jaan Kross macht, sie sucht nicht nach einem dokumentarischen Korrektiv, daß den LeserInnen eindeutige Hinweise auf Wahrheits- oder Unwahrheitsgehalt des Erzählgeschehens geben würde. Gerade das Wieder-Verschwinden von eben beschriebenen Bildern und Zuständen machen diese erinnerbar und werden so zum Gegenstand von Luiks poetischer Sprache. Undeutlich wischen Ereignisse der 60er Jahre an den Augen der LeserInnen vorbei, Orte zwischen Prag und Tallinn verschwimmen und werden mit ungleichzeitigen Auftauchen im Bewußtsein von Luiks Hauptfigur, einer jungen Frau in Riga, die auf die Heimreise nach Tallinn wartet und sich zwischenzeitlich dort in den Maler Lion verliebt, als Bestandteil einer eigenständigen Realität identifiziert.

"Zu beiden Seiten hin verlieren sich lange Sandstrände hinter der Wölbung des Erdballs und werden weiter südlich zu litauischen, polnischen und zweierlei deutschen Stränden. Bei Saulkrasti beginnen sie und müssen bei Travemünde noch lange nicht aufhören. Weiter nördlich kommt nur noch Estland – weißer Himmel, Kühe bis zum Bauch im Wasser, spärliches salziges Gras der Strandtriften und rauh pfeifender Wind. Noch höher hinauf geht es nicht mehr, da sind Wasser und Waffen im Weg."

An Hinweisen, daß das Offensichtliche nicht notwendigerweise Realität sein muß, fehlt es nicht. Luik gibt ihren LeserInnen auch eine Art "Gebrauchsanweisung" mit auf den Weg. "Endlich wieder Herr der Wörter sein, und nicht ihr Knecht." Unter etlichen Sofakissen verborgen ein Telefon, daß auf keinen Fall benutzt werden darf, bevor die "Geheimsprache" erlernt ist. Wörter die "Buch", "Koffer", "Papier" als Tabu, Nachdenken über die Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit. "Männer können oppositionelle Ideen vertreten, die Vermutung liegt nahe. Männer sind immer verdächtiger als Frauen, am besten gibt man ihnen sicherheitshalber Frauennamen. Paris wird in Kiew umbenannt und New York in Moskau, will man dagegen tatsächlich von Kiew und Moskau sprechen, heißt es ‚bei der Tante‘ und ‚beim Onkel‘."

Dennoch ist "die Schönheit der Geschichte" kein politisches Buch. Den LeserInnen wird ein Gesamtbild einer Situation geschaffen, das 1968, in der Zeit in der in Prag die Panzer rollen, angehalten wird. Wie schwere, schwüle Luft vor einem Gewitter, das dann doch ausbleibt, versucht Viivi Luik die Aufmerksamkeit auf die vielschichtigen Aspekte einer solchen Situation zu lenken. Individuelle Wünsche und Träume müssen zurückgehalten werden, und gerade die-ser dadurch entstehende innere Druck verursacht eben auch, intensiver zu leben als sonst. Letztlich ein Plädoyer für die Kraft der Liebe, welche die willkürlichen Grenzen, die irdische Bürokraten und Kriegsherren künstlich zu ziehen versuchen, schließlich doch sprengt. Daß die kreative Kraft der Sprache Viivi Luiks auch in der deutschen Übersetzung erhalten geblieben ist, muß auch als Verdienst des Übersetzers Horst Bernhardt bezeichnet werden.

Viivi Luik: Die Schönheit der Geschichte, Rowohlt Verlag Hamburg, 160 Seiten, 32 DM.

 

Albert Caspari

(aus: INFOBALT.DE Heft 1/98)

 

 

ARCHIVTEXT – eine kostenlose Serviceleistung des Vereins INFOBALT, Bremen

entnommen der Ausgabe 1/98 des INFOBALT.DE – INFOBLATT BALTISCHE STAATEN
herausgegeben von INFOBALT, Helgolander Str. 8, 28217 Bremen