Deutsche und die baltischen Staaten - eine problematische Beziehung?

ARCHIVTEXT – eine kostenlose Serviceleistung des Vereins INFOBALT, Bremen

entnommen der Ausgabe 2/96 des INFOBALT.DE – INFOBLATT BALTISCHE STAATEN
herausgegeben von INFOBALT, Helgolander Str. 8, 28217 Bremen

Baltische Landwirtschaft? Schluß mit der Romantik!

Erfahrungen in Estland auf dem Lande

Zum wiederholten Male stellt INFOBALTT an dieser Stelle die Zukunftsaussichten der Landwirtschaft in den baltischen Staaten zur Diskussion. Die Gegensätze zwischen den sich sprunghaft entwickelndet Großstädte wie Tallinn, Riga oder Vilnius wachsen, das Alltagsleben in den weiträumigen ländlichen Bereichen basiert immer noch weitgehend auf kleinbäuerlicher Landwirtschaft. Mehrfach hatten im INFOBLATT verschiedene Autoren auf die wichtige Funktion umweltverträglicher Wirtschaftsweisen verwiesen, zuletzt Frau Helga Fritzsche im Heft 2/95. Der folgende Artikel wurde uns von einer in Estland lebenden Deutschen zugesandt und belebt hoffentlich die Diskussion.

Erst einmal stelle ich mich vor: Ich heiße Ute Wohlrab-Jaagusoo und bin 26 Jahre alt. Durch Zufall erhielt ich das INFOBLATT BALTISCHE STAATEN, Ausgabe 2/95 und fühlte mich vor allem von die Artikel "Estnische Träume" und "estnische Landwirtschaft am Scheideweg" angesprochen.

Seit 1988 in Kontakt mit Estland und mit Esten habe ich mir vor 2 Jahren den Traum erfüllt, in Estland einen Bauernhof mit Tieren (vor allem Pferden) zu haben. Inzwischen habe ich Schlachtpferde aus schrecklichsten Haltungsbedingungen herausgekauft, Hunde und Katzen auf der Straße aufgelesen und ein privates kleines Tierasyl eingerichtet. Ich informiere/möchte informieren über Kaltstallhaltung von Pferden, artgerechterer Tierhaltung, Anfänge einer Verbesserung der Tierhaltung. Ihr Artikel (im Heft 2/95) hat mich sehr berührt und ich möchte dazu - wenn auch sehr kritisch - Stellung nehmen.

Richtig ist, daß viele Bauern wirklich gewillt waren, eine eigene Landwirtschaft aufzubauen, Tiere zu halten, vielleicht sogar nach ökologischen Prinzipien. Da ich in Südestland lebe und hier die Landwirtschaftsbetriebe meiner Umgebung ständig vor Augen habe, habe ich allerdings ein ganz anderes Bild der Bauern als Sie in Ihrem Artikel beschreiben.

Viele Höfe sehen heute aus wie die letzten Müllhalden. Ich persönlich kenne nur sehr wenige wirklich einladende Höfe. Dafür steht vor der Türe ein wundervoll gepflegtes Westauto, in der Wohnung läuft den ganzen Tag der Fernseher. Ich kenne das ländliche Leben in Deutschland, kenne das Arbeitspensum eines Bauern sehr gut. Es paßt allerdings in meinen Augen nicht zusammen, Zeit für Wohnungsausbau, Geld für Autos zu haben und die Ställe - Lebensraum der Tiere - in einem Zustand zu lassen, daß einem Besucher die Haare zu Berge stehen. Um es ganz deutlich auszudrücken: bäuerliche Romantik und estnisches Landleben passen nicht zusammen. "Geld für Kunstdünger und Pestizide HATTE keiner" - stimmt, hatte! Inzwischen sollten Sie sich die riesigen Getreidemonokulturen einmal anschauen, Sie sollten die Konsumenten landwirtschaftlicher Güter einmal beobachten. Ich habe mir einige Male angesehen, wie gleich ganze Kofferraumladungen an Gift und Düngern gekauft wurden - etwas anderes als diese Chemieprodukte bekommt man in den auf Bauern ausgerichteten Geschäften ja fast nicht mehr. Vor allem in diesem Jahr war ich schockiert, wie viel gegiftet wurde!

Wer hier in Estland dem Trend zum Konsum nicht folgt, ist automatisch ausgebootet. Wer hier seine Tiere in etwas anderen Umständen hält, wird ausgelacht. Was im Augenblick in Estland zählt, ist die Arbeit an einem Image, das einer Stichprobe nicht standhalten kann: man spielt reich. Und man bereichert sich. Der Nachbar, der früher einmal seinen LKW zur Verfügung stellte, zahlt jetzt horrende Preise. Hilfe? Gegen Bezahlung. Zusammenhalt? Nicht existent. Ich habe einer Bäuerin, die ihre Kühe in einem extrem winzigen, unventilierten Stall in extremem Gestank, Dunst, auch noch zusammen mit Schweinen, Enten und Hühnern hält versucht zu erklären, daß ich ihre ständigen "Liebeserklärungen an die Kühe" nicht hören will, weil ich ihre Haltungsbedingungen für unhygienisch und schlecht halte. Daraufhin wurde ich vom halben Dorf für verrückt erklärt. Ich habe aber nicht irgendwie herumgenörgelt, sondern erklärt, daß eine Ventilation sehr einfach einzubauen sei und nicht mehr als drei Stunden Arbeit und ein paar Bretter in Anspruch nimmt.

Tierhaltung ist hier überhaupt das Problem. Hunde an einer 2m "langen" Kette, abgemagert zum Skelett, oft sogar ohne Hundehütte, sind hier die Regel. Pferde haben ungeschnittene Hufe, hinken vor den Karren die Straße entlang und werden dann eben geprügelt, damit sie noch laufen. Ich habe dieses nicht nur einmal gesehen. Offene Wunden vom Geschirr oder in den Hals gewachsene Ketten - ich kenne das schon. Wenn ich etwas sage, erklärt man mir allen Ernstes: Ja, du bist Deutsche, du hast eben Geld. Kühe werden an Ketten angepflockt, in der prallen Sonne, ohne Wasser, ohne Schatten. So dürre Kühe wie hier habe ich mein ganzes Leben noch nicht gesehen. Und dann die Ställe. Ich kenne einige Bauern, die ein einziges Mal in der Woche den Kuhstall misten. Welche Milchqualität habe ich denn dann? Diese Milch wird bei der Abholung mit vielleicht sehr guter Nachbarmilch vermischt und geht an die Molkerei. Wartezeiten nach Antibiotikagaben kennt man hier nicht. Und Antibiotika werden unkontrolliert und noch dazu billig verkauft. Nicht nur eine Bäuerin versicherte mir, alle 2 Wochen "rein vorsorglich" Antibiotika zu spritzen, damit die Kuh nicht krank werde. Die Bauern wollen aber keine "Öko"-Berater, die chemische Industrie ist viel besser organisiert: Alles ist schön verpackt, "sauber", mit wenig Arbeit verbunden. Warum Unkraut jäten, wenn ich Gift verwenden kann, "praktisch".

Daß die estnischen Bauern ihr Futtergetreide nicht absetzen können, ist ganz einfach falsch. Die Bauern können kein Futtergetreide mehr kaufen, weil - wie auch immer - die Preise plötzlich vervierfacht sind. Das schlechtere Futtergetreide, manchmal noch zwei bis drei Jahre alt, kostet hier schon mehr als das Brotgetreide auf dem Weltmarkt. "Normal" ist derzeit ein Preis von 2,50 Kronen (ca. 32 Pf) pro Kilo Roggen oder Hafer und 3 Kronen pro Kilo Gerste, Weizen noch etwas teurer. Estland hat aber derzeit kein qualitativ hochwertiges Getreide anzubieten. Die Weizenimporte sind deswegen notwendig, weil die Esten praktisch nur noch Weißbrot essen, kein Roggenbrot. Also umgekehrt: Die Esten verlangen nach dem früheren "Defizit" Weißbrot und wollen kein Schwarzbrot mehr essen, da der estnische Getreidemarkt aber nicht ausreichend guten Weizen für Brot liefern kann, wird importiert. Würden die kanadischen Weizenlieferungen nicht zu "Dumpingpreisen" (so Frau Fritzsche im Heft 2/95) ins Land kommen, wäre auch Weißbrot im Preis inzwischen um das Vierfache gestiegen, wie das übrige Getreide auch. Übrigens könnte Estland ja auch keine ökologisch angebauten Getreideexporte tätigen, weil es Öko-Getreide praktisch gar nicht gibt.

Die vielen verlassenen distelbewachsenen Felder weisen darauf hin, daß die Privatisierung mit ihren andauernd wechselnden Gesetzen nicht vorwärts geht. Wie soll ich denn bitte eine Landwirtschaft aufbauen, wenn ich nicht weiß, ob ich mein Feld auch behalte? Viele Bauern möchten Land kaufen und können das nicht. Wir warten seit 5 Jahren auf die Rückgabe des Landes hier. Anträge sind komplett und gestellt.

Die Molkerei von Vóru hat keine 9 Millionen kg (wie Frau Fritzsche schrieb), sondern "nur" 9000 kg Käse "verschwinden lassen". Es wird hier geredet, daß dieser Käse von den Leitern unter der Hand verkauft wurde und die Herrschaften eben in die eigenen Taschen gewirtschaftet haben. Die Russen, die angeblich den Käse kauften, wurden nur vorgetäuscht, um den ohnehin bestehenden Nationalitäten-Unfrieden für die eigenen Zwecke auszunutzen. Übrigens fahren die Bosse der Molkerei Vóru allesamt große, wunderschöne, westliche Dienstwagen, die eifrig auch privat benutzt werden, das weiß ich zufällig sehr genau.

Das große Problem ist einfach, daß zu viele unorganisierte kleine Bauern zuviel Milch produzieren. Das Angebot ist einfach zu groß, dadurch bekommen die Molkereien enormen Handlungsspielraum. Das Angebot/Nachfrage-Prinzip funktioniert hier einfach noch nicht und die Bauern sind zu unorganisiert, um das zu ändern. Die Tendenz, nur noch bei großen Ställen abzuholen, ist dann verständlich, wenn das für 7.00 Uhr erwartete Milchauto gegen 12.00 Uhr kommt und die Milch solange ohne Kühlung in der Sonne auf der Abholplattform steht. Viele Plattformen sind im Winter gar nicht erst zu erreichen und bei den Temperaturen von unter minus 15 Grad ist die Milch eben irgendwann "Milcheis".

Vor allem diese Schweinefleisch-Recherche (Fritzsche) ist Ihnen nicht gelungen: Gehen Sie in Estland einkaufen und beobachten Sie, WAS gekauft wird. Sie werden sehen, daß von 10 Kunden sicherlich 8 Wurst oder Fleischprodukte kaufen. Wenn ich Rinderknochen verlange, weist mich die Verkäuferin regelmäßig darauf hin, für die Suppe unbedingt Schweineknochen zu verwenden und die Rinderknochen dem Hund zu geben. Nach meinen Erfahrungen essen praktisch alle Esten, die ich kenne, mindestens einmal pro Tag Fleisch. Das EU-Fleisch ist allerdings bestimmt nicht besser als das hier produzierte. Gehen Sie einfach einmal in einen estnischen Massenzuchtbetrieb - nur Mut! Was Sie sehen werden an Intensivhaltung (i.d.R. ohne jegliche Mistung) und kontrollierter Medikamenten- und Hormongaben wird auch Sie überzeugen. Die Leiter dieser Betriebe werden in Radiointerviews als besonders clevere und gute "Businessmen" dargestellt, die dann auch offen mit Automarken und so weiter protzen. Der arme Mann, der den "Kadaga-turg" (Fritzsche) besuchte, war nur am falschen Platz: Er muß die Schweine ins Schlachthaus bringen! Oder kaufen Sie selbst in Ihrem Lieblings-Supermarkt das Suppenhuhn lebendig? Ich weiß sicher, daß auch im letzten Jahr ein Defizit an Schweinefleisch bestand und dies wohl der Grund für Importe war.

"Butter aus Finnland, Käse aus Dänemark..." - richtig! Wissen Sie warum? Weil in Estland die einfach verpackten Waren nicht schön genug verpackt sind und die Konsumenten "sich gönnen", auf was sie glauben verzichtet zu haben. Ich werde wütend wenn ich 50km nach Tartu zum Markt fahren muß, um ESTNISCHE ÄPFEL kaufen zu können - in Otepää gibt es nur Hollandäpfel. Holland-Paprika, 50 Kronen (ca. 6,50 DM) das Kilo, werden gekauft, Bananen, Weintrauben, - estnischer Kohl, Karotten (wenn es schon mal estnische gibt....) bleiben dagegen als Ladenhüter liegen. ‘Wenn ich beim Einkaufen Augen und Ohren offenhalte, wundert mich oft nichts mehr. Allerdings muß ich sagen, daß Firmen wie "Jim Beam" einfach tolle Werbeplakate haben. Klar kann da schon vom Image her der hervorragende estnische Wodka nicht mithalten. Auch ein Aspekt ist die Qualität estnischer Produkte und was mich besonders ärgert, die fehlende Bestandteilsangabe. Bei ausländischen Produkten wie Käse, Butter weiß ich aber auch unter welchen Hygienebedingungen sie hergestellt sind. Den Besuch einer estnischen Meierei empfehle ich niemanden. Neu auch: Brot wird in Plastiktüten verpackt verkauft. Nicht nur die Qualität leidet: es ist sogar auch einiges teurer. Aber "schön hygienisch....."

Ich könnte Ihnen noch vieles über die Probleme der estnischen Landwirtschaft schreiben, auch über die neue Einstellung, Touristen mit "Ferien auf dem Bauernhof" zu enormen Preisen auszunehmen wie eine Weihnachtsgans, über die Probleme der estnischen Bauern mit Skiloipen, reich-spielenden Touristen, die enormen Flurschaden anrichten, Polizisten, die Bauern einfach auslachen, anstelle zu helfen ....Ich lade alle INFOBALT-Leser/innen ein, einfach mal vorbei zu kommen und bei Bedarf persönlich über alles zu reden. Denn: Die Einstellung, mit Katastrophenmeldungen Geschenke von "reichen Deutschen" zu bekommen, ist nun eben weitest verbreitet. Ich könnte auch über die Machenschaften der sogenannten Reitbetriebe für Touristen schreiben. Ein Familienvater meinte dazu: "Stellen Sie sich bitte vor, da werden blutende Pferde mit offenen Wunden, halbe Skelette, vor den Augen meiner Kinder noch blutender geschlagen! Wie erkläre ich das den Kindern, die total verstört ankommen und mir das mit Tränen in den Augen erzählen? Bin ich deswegen nach Estland gekommen? Ich wollte Urlaub auf dem Bauernhof machen und nicht bei Tierquälern!" (gemeint war der Betrieb "Leigo-Turimitalu" in der Nähe von Otepää). Es gibt vieles im täglichen Leben, das der gelegentliche Besucher nicht sehen kann und dem Besucher verschwiegen und nicht gezeigt wird. Das gute alte "wir haben kein Geld, wir können dies und das nicht" erfüllt ja am Ende den gleichen Zweck.

Dennoch hoffe ich, daß in Zukunft weiter Gäste aus Deutschland den Weg nach Estland finden. Bis dahin: Herzliche Grüße aus Estland!

Kontakt:

Ute Wohlrab-Jaagusoo, Marguse-Talu, EE-2513 Otepää. Tel. 00372-76-54026.

 

 

 

Stellungnahme von Frau Helga Fritzsche

Liebe Frau Wohlrabe,

Ihre Tierliebe macht Sie sympathisch, steht aber nicht im Gegensatz zu meinen Aussagen. Für Tiere müßte in der Tat in Estland noch viel getan werden. Gute Ställe zu bauen kostet aber viel Geld und Mühe, während die Bauern keinerlei Unterstützung bekommen.

Ich habe deutlich mit ÖKOMAA EESTIMAAL die bewussten und fleissigen ökologischen Bauern vertreten, deren Anliegen ich kenne; nicht als "gelegentlicher Besucher, dem Dinge verschiegen und nicht gezeigt werden". Bitte zeigen Sie mir einen Hof, der zur "bio-dynamischen Gesellschaft Estlands" gehört, wo "vor der Tür ein wunderschön gepflegtes Westauto steht und in der Wohnung den ganzen Tag der Fernseher läuft", während die Tiere vernachlässigt, ja mißhandelt werden. Wir haben offenbar sehr verschiedene Menschen im Auge.

Dass die Eigentumsverhältnisse nicht geklärt sind, erwähnte ich auch schon. Bei dem anderen gravierenden Grund für die massenhafte Aufgabe der Höfe verwechseln Sie Ursache und Wirkung. Da die Bauern ihre Produkte (Getreide und Fleisch) nicht absetzen konnten, weil die Importe zu Dumping-Preisen die alten Eßgewohnheiten geändert haben, waren so viele zur Aufgabe gezwungen. Die Felder wurden nicht bestellt. So kam es in diesem Jahr zur vorausgesehenen Knappheit und Erhöhung des Brotpreises. Die Bauern bekamen für ihr Futtergetreide plötzllich ein Mehrfaches.

Es wurde und wird hochwertiges Getreide angeboten. Importe von Getreide und Fleisch waren nie notwendig. Sie sagen, dass es Ökogetreide nicht gäbe, während ich die unverkauften Vorräte bedauerte.

Dass die Esten verpacken und vermarkte erst lernen müssen, ist klar, aber sie werden nicht ermutigt.

Noch ein Wort zu den Ferien auf dem Bauernhof. Unsere Freunde bieten preiwerte gute Plätze an, meist einfach und angenehm. Natürlich empfehlen wir sie nur Naturfreunden, die keinen "Flurschaden anrichten".

Helga Fritzsche

 

(aus: INFOBALT.DE Heft 2/96)

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